Daniel Kehlmann über „Cancel Culture“ in den USA: „Wir erleben eine kulturelle Revolution“

Die amerikanische „Cancel Culture“, der Wunsch, den intellektuellen Gegner mundtot zu machen, sei Teil eines vergifteten historischen Erbes.

Daniel Kehlmann über „Cancel Culture“ in den USA: „Wir erleben eine kulturelle Revolution“ 10/07/2020

Der deutsch-österreichische Schriftsteller Daniel Kehlmann, 45, glaubt, dass die Vereinigten Staaten gerade einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch durchmachen: „Wir erleben eine kulturelle Revolution.“ Er begrüße das, sagte er in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL. Trotzdem müsse man sich ihren Auswüchsen entgegenstellen. Niemand dürfe etwa seinen Job verlieren, weil er eine bestimmte Meinung geäußert habe.

Kehlmann ist einer von mehr als 150 Unterzeichnern des Offenen Briefs „Über Gerechtigkeit und offene Debatte“, den die US-Zeitschrift „Harper’s Magazine“ am vergangenen Mittwoch veröffentlichte. Unterschrieben haben unter anderem Margaret Atwood, Ian Buruma, Noam Chomsky, Garri Kasparow, Wynton Marsalis, Steven Pinker, Salman Rushdie und J. K. Rowling. Der Brief warnt davor, dass der „freie Austausch von Informationen und Ideen, der Lebensnerv der liberalen Gesellschaft“, von „Tag zu Tag mehr eingeschränkt“ werde.

Er sehe keine Gefahr von Sprech- oder Denkverboten, sagte Kehlmann nun dem SPIEGEL. Das Meinungsklima in den USA verleite aber Verlage dazu, ängstlich auf Druck aus der Öffentlichkeit zu reagieren. Auch wenn in Deutschland einige Autorinnen und Autoren den Wunsch hätten, „amerikanische Diskursmoden zu imitieren“, sehe er die deutsche Öffentlichkeit nicht in Gefahr.

Die amerikanische „Cancel Culture“, der Wunsch, den intellektuellen Gegner mundtot zu machen, sei Teil eines vergifteten historischen Erbes. Weil die Sklaverei nie wirklich aufgearbeitet worden sei, würden diese Konflikte dort nun so erbittert ausgetragen. Kehlmann lebt in Berlin und New York.