Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier
beim Mittagessen mit den Staatsoberhäuptern der Slowakischen Republik, Ungarns, Polens und Tschechiens am 9. November 2019 in Berlin:
Der 9. November 1989 war ein glücklicher Tag, ein großer Moment in der Geschichte meines Landes und unseres
Kontinents. Umso mehr freue ich mich, Sie heute hier bei uns zu wissen!
Und dennoch ist der Blick auf diesen 9. November heute ein anderer als noch vor fünf oder zehn Jahren. Hier
in Deutschland debattieren und, ja, streiten wir, mehr als vielleicht je zuvor, über die deutsche
Wiedervereinigung und ihre Folgen. Auch in Europa, innerhalb Ihrer Länder und auch zwischen den europäischen
Gesellschaften, wird intensiver und heftiger gerungen, nicht nur um die Zukunft Europas, sondern auch um die
Deutung der Vergangenheit.
Lange Zeit schien uns dieser 9. November 1989 als der Meilenstein des Epochenwechsels. Er trennte die
Zukunft von der Vergangenheit – fast so eindeutig, so monumental, wie diese Berliner Mauer den Osten und den
Westen trennte. Der 9. November trennte eine Vergangenheit der Unterdrückung von einer Zukunft in Freiheit,
die Irrwege der Diktaturen vom kommenden Siegeszug der liberalen Demokratie.
Glaubten damals manche schon an das „Ende der Geschichte“, so ist die Zukunft aus heutiger Sicht offener und
ungewisser denn je. Die liberale Demokratie ist angefochten, von manchen sogar infrage gestellt. Und mit dem
Blick in unsere Zukunft verändert sich auch der Blick zurück. Es stellen sich neue Fragen an unser
historisches Erbe – Fragen, über die auch wir heute ins Gespräch kommen werden.
Trotz dieser oder vielmehr gerade wegen dieser neuen Debatten habe ich Sie heute nach Berlin eingeladen.
Denn bei allem, was sich verändert, was ungewiss und streitwürdig erscheint, möchte ich als Bundespräsident
festhalten, was uns Deutschen wichtig ist und wichtig bleibt im Blick auf unsere eigene Geschichte – und das
ist dies: Ohne Polen und Ungarn, ohne Tschechen und Slowaken können wir Deutsche diesen Tag nicht begehen.
Ohne sie hätte es diesen Tag womöglich gar nicht gegeben.
Deshalb sind Sie, liebe Kollegen, uns heute nicht nur als unsere Gäste willkommen. Sie sind viel mehr als
das: Sie sind Mitgestalter unserer deutschen Geschichte. Der lange und beharrliche Kampf um Freiheit und
Selbstbestimmung in Ihren Ländern, den Ländern in der Mitte Europas, gehört zu den historischen
Voraussetzungen dieses 9. November vor dreißig Jahren.
Ich bin fest davon überzeugt, die Berliner Mauer wäre nicht gefallen ohne die Aufstände in Budapest und
Posen, in Warschau, Danzig und Krakau, ohne den Frühling von Prag und Bratislava, ohne die Unruhen in Stettin
und schließlich wieder in Danzig. Die Berliner Mauer fiel nach einem langen, oft verzweifelten und deshalb
umso mutigeren Kampf. Wenn Sie mir gestatten, die berühmte Formel des polnischen Novemberaufstands von 1830
zu bemühen: Es war ein Kampf „za naszą i waszą wolność“, für unsere und eure Freiheit.
Gewiss, ohne die große Unterstützung aus Washington, aber auch ohne die mutigen und menschlichen
Entscheidungen von Michail Gorbatschow in Moskau wäre die Geschichte nicht so glücklich und sicher nicht so
friedlich verlaufen. Das haben wir nicht vergessen, und das werden wir nicht vergessen.
Aber wahr ist auch: Ungarn, Polen, Tschechen und Slowaken nahmen sich die Freiheit. Sie nahmen sich die
Freiheit für Europa und beendeten die Teilung unseres Kontinents. Die Freiheit Europas ist ihr Verdienst. Was
wir heute sind und werden können, verdanken wir der Freiheit, die sie erkämpft haben!
Das Grauen und die Irrwege des 20. Jahrhunderts waren nach dem 9. November 1989 Geschichte. Vor uns allen
lag eine neue alte Welt. Der Eiserne Vorhang, hinter dem die Mitte Europas über Jahrzehnte verschwunden war,
verschwunden auch aus Bewusstsein und Gedächtnis vieler Westeuropäer, dieser Vorhang hatte sich endlich
gehoben.
Ich erinnere mich gut an den Aufbruch von damals, das Staunen, die Neugier aufeinander, an die
Wiederentdeckung des „Herzen Europas“.
Heute, dreißig Jahre später, ist die Neugier noch da, vor allem unter den Jungen. Wir haben das auch heute
Morgen von Jugendlichen gehört. Wir sehen sie immer noch nach Prag reisen, nach Budapest, Krakau und
Bratislava. Wir sehen das Interesse auch in unseren Buchhandlungen: Die erfolgreichen Autoren kommen aus
Polen, Tschechien, Ungarn und Österreich, aus der Mitte Europas. In den dreißig Jahren seit 1989 gingen
allein sieben Literaturnobelpreise in diese europäische Mitte, erst kürzlich 2018 an Olga Tokarczuk. Ich
finde, all diesen Neugierigen, den Forschenden, Studierenden, den Kulturschaffenden sollten wir es leichter
machen, wir sollten unsere Verkehrswege ausbauen und sie vernetzen, ebenso wie unsere Universitäten.
Heute, dreißig Jahre nach dem 9. November, wünsche ich mir, dass wir uns diese Neugier aufeinander bewahren.
Dass wir nicht glauben, wir wüssten nach dreißig Jahren alles über den anderen – auch, warum er Unrecht hat
mit seiner Meinung.
Wenn wir heute gemeinsam auf das Jahr 1989 zurückblicken, ermessen wir auch die Wegstrecke, die wir seither,
in drei Jahrzehnten, zurückgelegt haben. Wir erinnern uns an den Beitritt Ungarns, Polens, Tschechiens und
der Slowakei zur Europäischen Union 2004 – noch ein großer und glücklicher Moment unserer Geschichte, der uns
in vielem noch viel enger zusammengeführt hat.
Wir wissen, dass sich nicht alle Hoffnungen erfüllt haben, und wir alle ahnen, dass das eine unrealistische
Erwartung wäre. Die Friedlichen Revolutionäre von 1989 entschieden sich gegen die hohlen Glücksversprechen
des Kommunismus. Sie wählten die Freiheit und die Demokratie, und sie hofften auf ein besseres Leben in einem
Europa, das dem Einzelnen den Raum gibt zur freien Entfaltung und das diesen Raum schützt.
Wir haben nicht alles davon erreicht. Freiheit und Demokratie, Wohlstand und Zusammenhalt in Europa bleiben
große und anspruchsvolle Ziele. Sie fordern uns. Sie verlangen unseren Mut und unseren Gestaltungswillen. Sie
verlangen Ausdauer und Geduld. Wer zurückblickt auf das Jahr 1989, der weiß, dass Ungarn, Polen, Tschechen,
Slowaken und Deutsche all das schon einmal bewiesen haben.
Die Mutigen von 1989 haben damals die Freiheit und Einheit Europas ermöglicht. Heute liegt dieses freie und
geeinte Europa in unserer gemeinsamen Verantwortung. Es ist einzigartig in der Geschichte dieses Kontinents:
Es ist ein friedliches Europa, ein Europa, in dem wir uns aus freien Stücken zusammengefunden haben, ein
Europa, in dem Ost und West, Nord und Süd, große Staaten und kleine Staaten eine gleichberechtigte Stimme
haben und alle einen Teil der Verantwortung tragen.
„Für unsere und eure Freiheit“ hieß der alte Ruf der Revolutionäre. Heute möchte ich rufen: „Für unser und
euer Europa.“ Es gibt kein Europa von Brüssel, kein Europa von Berlin und Paris, kein Europa von Budapest,
Warschau, Prag und Bratislava. Sondern unser Europa ist euer Europa – euer Europa ist unser Europa. Wir haben
nur das eine, das gemeinsame!
Lasst uns Sorge dafür tragen, lasst uns den Zusammenhalt bewahren und dafür sorgen, dass die Differenzen,
die wir haben, nicht unüberwindlich werden. Ich bin euch, liebe Kollegin, liebe Kollegen, dankbar für die
vielen intensiven Gespräche, die wir in der Vergangenheit miteinander geführt haben über unsere europäische
Zukunft. Ich bin euch dankbar für euren persönlichen Beitrag zu einer guten Nachbarschaft in diesem vereinten
Europa, und ich freue mich auf unsere weitere gemeinsame Arbeit für dieses Ziel in den kommenden Jahren.
Lasst uns den Traum von damals, den Traum von Freiheit, Frieden und Einheit Stück um Stück gemeinsam
verwirklichen.