Der ehemalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel rechnet mit seiner Partei ab. In BILD am SONNTAG kritisierte er die maue Bewerberlage für den Parteivorsitz: „Ich sehe das mit großer Verzweiflung und auch wachsendem Zorn, wie der Vorsitz der SPD fast schon wie ein infektiöses Kleidungsstück behandelt wird, das sich niemand ins Haus holen will. Scheinbar denken viele immer nur über die Frage nach, ob ihnen der SPD-Vorsitz nutzt oder schadet.“
Speziell von den Spitzenvertretern seiner Partei erwartet Gabriel mehr Engagement: „Ich erhoffe mir sehr, dass Menschen, die ihre gesamte Karriere nur der SPD verdanken, unserer Partei jetzt auch was zurückgeben.“ Er selbst sei als Parteichef zurückgetreten, weil er gedacht habe, die SPD bräuchte einen neuen Hoffnungsträger. „Man muss die SPD um ihrer selbst willen führen wollen und nicht um der eigenen Karrierewünsche. Sie ist es wert“, so Gabriel. Die SPD brauche jetzt neue Vorsitzende, „die für nichts anderes brennen als dafür, die SPD nach 160 Jahren nicht verschwinden zu lassen. Denn es geht gerade um die Existenz meiner Partei.“
Auch den Umgang der Partei mit ihrem Führungspersonal kritisierte Gabriel scharf. Die SPD kleistere ihre inneren Konflikte von Migrationspolitik über innere Sicherheit bis zu Arbeit und Umwelt mit Formelkompromissen zu. „Wir streiten uns um Halbsätze, damit sich auch wirklich jeder in all den Papieren wiederfinden kann. Aber im richtigen Leben, wenn regiert werden muss, brechen diese Konflikte auf“, so Gabriel. „Dann geht es auf einmal nicht mehr ums Regieren, sondern ums innerparteiliche Rechthaben. Und in diesem Mühlstrom wird das Führungspersonal der SPD regelmäßig zermahlen.“ Als Beispiel nannte er seinen „unfassbaren Streit“ mit der Partei wegen des Freihandelsabkommens mit Kanada.
Dieses Verhaltensmuster in der Partei müsse sich ändern. „Wenn das nicht ein Ende hat, wird auch die nächste Führung zerschlissen.“ Seine große Sorge sei, dass die Bewerber um den SPD-Vorsitz auf jeder der 30 geplanten Mitgliederveranstaltungen nur gefragt würden, ob sie für oder gegen die derzeitige Regierungsbeteiligung in der Großen Koalition seien. „Das ist auch wichtig. Aber ich vermute, es geht schon wieder ums Rechthaben. Dass die, die schon immer dagegen waren, jetzt recht bekommen wollen. Vielleicht haben sie sogar recht. Aber wenn das die einzige Frage ist, die geklärt wird, dauert es nicht lange, bis auch die neue Führung aufgerieben wird“, so Gabriel. Stattdessen bräuchte die SPD eine Gruppe von mutigen und engagierten Leuten, die klar sage, wie ihre Antworten auf die ungelösten Fragen der SPD lauteten. „Die neue SPD-Parteiführung braucht ein inhaltliches Mandat und nicht nur eine Mehrheit in einem Beauty Contest.“
Den Rücktritt von Andrea Nahles als Partei- und Fraktionsvorsitzende bewertete Gabriel gemischt: „Wir waren politisch nun wahrlich nicht die besten Freunde. Aber es tut mir um jeden Menschen leid, der wie sie mit ungeheuer leidenschaftlichem Engagement in der Politik ist und dann an einen Punkt kommt, wo nur noch der Rücktritt bleibt. Politik hat auch etwas Erbarmungsloses. Aber sie hat diese sehr harte Seite der Politik auch immer selbst betrieben.“
Sein eigener Abschied aus der ersten Reihe der Politik schmerzt Gabriel immer noch manchmal: „Natürlich juckt es mich gelegentlich in den Fingern. Manchmal fällt es mir schwer, Nachrichten anzuschauen. Nicht nur, weil mir der Zustand meiner Partei wehtut, sondern auch, weil unser Land seine Chancen nicht nutzt.“
Der ehemalige Außenminister und Vizekanzler kritisierte das aktuelle Kabinett: „Deutschland wird leider unter seinen Möglichkeiten regiert.“ Es werde sich nicht auf eine immer unsicherer werdende Welt vorbereitet. Als Gefahren nannte Gabriel das Ende eines zehnjährigen Wirtschaftsaufschwungs und die großen Handelskonflikte: „Wir müssen mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit rechnen. Und die Welt um uns herum wird gefährlicher. Da braut sich ein perfekter Sturm zusammen. Die Windstille, die in Deutschland herrscht, ist trügerisch. Im Auge des Orkans ist es immer windstill.“